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Workcamp Sobibor April 2006
Ein Reisebericht
16.04.2006 Es ist Sonntagnachmittag. Seit heute Morgen, unserer Ankunft
in Berlin-Lichtenberg, begleiten mich Gedanken über das was ich in
den vergangenen Tagen sah, hörte und fühlte. Wie kann ich diese
Gefühle und Eindrücke kanalisieren, sie benennen? Damit meine
Mitmenschen so gut wie möglich nachvollziehen können, was ich
erlebte?
In den folgenden Bericht will ich versuchen eine Tür dahin zu öffnen.
An viele Details kann ich mich kaum noch erinnern, dafür aber an
einige wenige Situationen sehr deutlich:
Als ich vor einer Woche in den Nachtzug mir dem
Ziel Lublin stieg, ahnte ich nicht, was mich dort erwarten würde.
Einige Wochen zuvor wusste ich ja noch nicht einmal, dass ein Ort Namens
„Sobibór“ auf der Landkarte Polens und in unserer Geschichte
existiert.
Nachdem wir eine Nacht im Zug verbrachten, dessen Abteile scheinbar hermetisch
abgeriegelt schienen, da sowohl die einzelnen Waggons untereinander als
auch die Fenster nicht aufzuschließen gingen, wurden wir mit wunderschönstem
Frühlingswetter in Lublin begrüßt. Ein Reisebus, der uns
für die gesamte kommende Woche zur Verfügung stehen sollte,
brachte uns vom Bahnhof zum Kloster. Dort angekommen mussten wir feststellen,
dass uns die Nonnen noch nicht erwarteten. Da die Zimmer noch nicht bezugsfertig
waren, stellten wir zunächst einmal unser Gepäck in einem Raum
unter und trafen uns zu einer ersten Vorstellungsrunde zusammen, wo wir
unter anderem Robert kennen lernten, der mit seinem Wissen über die
jüdische Geschichte vor allem vor Ort und in der Umgebung eine große
Bereicherung darstellte. Außerdem stellte sich in knappen Worten
Kurt Gutmann vor:
Kurt, heute 79 jährig, konnte während des Holocaust in einem
Jungenheim in Schottland untergebracht werden. Die Spuren seiner Mutter
und seines Bruders, die keine Chance zum Fliehen hatten, enden in Sobibór.
Kurt lebt heute in Berlin. Seine Lebensgeschichte findet Ausdruck in jedem
Blick seiner Augen, in jeder Bewegung seines Körpers, im Klang seiner
Stimme. Dasselbe gilt für Hans-Joachim, sein Sohn, der ihn auf dieser
Fahrt begleitete.
Ich danke Kurt, dass er uns eine Woche lang unter sichtlichen Anstrengungen
begleitete und keine meiner teilweise sehr persönlichen Fragen ablehnte.
Es folgte ein Stadtrundgang, den Robert mit einem Vortrag zur jüdischen
Geschichte in Lublin begleitete. Außerdem lernten wir die polnischen
Studenten Camillo und Ana kennen, die uns seitdem regelmäßig
Gesellschaft leisteten. Leider ist bei diesem Ausflug nicht viel in meinen
Erinnerungen hängen geblieben. Meine Konzentrationsfähigkeit
litt erheblich unter den Ermüdungserscheinungen der Zugfahrt.
Bis zum 2. Weltkrieg lebten in Lublin rund 40 000 Juden. Wie vielerorts
existierte eigentlich kein Kontakt zwischen den damals 80 000 polnischen
Einwohnern und den vorwiegend jüdisch-orthodoxen Menschen. In den
30er Jahren prägte sich zusehends ein starker Antisemitismus unter
den Polen aus. Schon vor der Einnahme Lublins zwei Wochen nach Kriegsbeginn,
litten die Juden unter erheblichen Repressionen. Im März 1942 erfolgte
die erste Deportation aus Lublin in die Vernichtungslager Sobibór,
Treblinka und Belzec. Allein in Sobibór wurden in den folgenden
anderthalb Jahren 250000 Juden kaltblütig ermordet. Das Lager wurde
nach einem Aufstand am 14. Oktober 1943 aufgelöst. Von den ehemals
40 000 Juden, die in Lublin lebten, überstanden 400 von ihnen den
Krieg. Außer einigen Hinweisschildern und den Gemäuern der
Häuser weist kaum noch etwas auf die damalige Existenz einer jüdischen
Kultur in Lublin hin. Bevor wir in das Kloster zurückkehrten, wo
wir unsere Zimmer bezogen, erkundigten wir jeder für sich noch einmal
die Stadt. Viele blieben auf dem Platz vor der Häuserzeile sitzen,
entspannten sich in der Sonne mit einem Eis oder einer für Polen
typischen Waffel in der Hand.
Nach dem Abendessen, was wie jeden Tag ein traditionelle Suppe beinhaltete,
setzten wir uns noch einmal zusammen, um über die Eindrücke
des Tages zu sprechen und vor allem Jules Schelvis zu begrüßen:
Jules Schelvis ist 84 Jahre alt. Mit seiner Deportation von den Niederladen
über Westerbork verbrachte er kurze Zeit in Sobibór. Er sah
seine Frau und viele Familienangehörige und Bekannte nach der Separation
nie wieder. Sie wurden sofort nach ihrer Ankunft im Vernichtungslager
vergast.
Mit den Geschichten von Kurt und Schelvis, erhielten für mich die
sonst so unglaublich abstrakten Zahlen an Opfern ein Gesicht. Sie gaben
uns die Möglichkeit, einen Teil von sich und damit unzähliger
anderer kennen zu lernen.
Am zweiten Tag fuhren wir das erste Mal in das etwa
80 km entfernte Sobibór. Pro Strecke saßen wir anderthalb
Stunden im Bus – für mich wichtige Zeiträume des „Nichtstuns“
die ich mit reflektieren, lesen, interessanten Gesprächen und ausruhen
füllen konnte.
Als wir mit dem Bus auf dem Parkplatz der Gedenkstätte Sobibór
hielten, musste ich feststellen, dass meine Vorstellungen nicht im Ansatz
mit dem Bild zusammen passten, welches mir dort geboten wurde. Nachdem
das Vernichtungslager aufgelöst wurde, es ist das einzige, dass sich
mit einem Aufstand befreien konnte, machten es die Nazis dem Erdboden
gleich und bepflanzten das entsprechende Gebiet mit einem schnellwachsenden
Kiefern, um keine sichtbaren Zeugnisse ihres Verbrechens zu hinterlassen.
Außer einem kleinen Museumshäuschen, einer Gedenkwand, an der
eine sehr knappe Information zur Geschichte des Orts in sechs verschiedenen
Sprachen angebracht war, weist zunächst erst einmal nichts auf die
Besonderheit des Ortes. Dort wo ehemals Mörder im Namen der Nazis
und ihrer selbst wohnten, leben heute wieder Familien Sie unterhalten
sich hauptsächlich aus der Holzwirtschaft, die Schienen für
vergangene Deportationen von hunderttausenden von Opfern zu ihrem Vorteil
nutzend. Es scheint wie ein ganz normales Dorf, ein paar Kilometer abseits
der Landstraße.
Unsere polnischen Kollegen waren noch nicht eingetroffen. So begingen
wir erst einmal in Begleitung von Jules Schelvis die scheinbar unsichtbaren
Wege des ehemaligen Vernichtungslagers, angefangen bei der Rampe. Die
später mit Bäumen bepflanzte Gedenkallee, der ehemalige Weg
zur Gaskammer, führt zu einem Ascheberg. Dort wo Bäume bereits
gepflanzt, sind einige Gedenksteine in Erinnerung an die Opfer in die
Erde einbetoniert worden. Die Idee hat mir gefallen. Allerdings wirkte
der an allen Seiten herausquellende Baustoff eher unwürdig. Die Erklärung
für diese Form von Festigung wurde uns später erklärt.
Während der Weihnachtszeit wäre es vorgekommen, dass Leute aus
der Umgebung sowohl Bäume entwendeten, als auch Steine aus ihrer
Fassung huben. Das Leben der meisten Menschen, die nach Sobibor deportiert
wurden, endete an dem Ort, wo heute der Ascheberg steht. Bevor sie dieses
letzte Stück Weg zurücklegten, wurden sie in zwei verschiedene
Gruppen separiert. Hier entschied sich, wer direkt vergast wurde, und
wer nicht. Hier trennten sich die Wege unzähliger Opfer, auch der
von Jules und seiner Frau Rahel und ihrer Familie. Jules konnte diesem
Moment kaum folgen und bemerkte erst kurz nach der Separation, dass seine
Frau ein anderer Weg aufgezwungen wurde.
Das Asche-Gedenk-Monument ist eine Idee mit der Zusammenarbeit der Stanislav-Hantz-Stiftung.
Es gibt viele verschiedene Meinungen über dieses Projekt. Ein Streitpunkt,
der auch am Abend noch einmal in einer Diskussionsrunde aufgegriffen wurde,
war der Aspekt, dass nicht eindeutig klar ist, ob sich das Denkmal tatsächlich
an dem Ort der ehemaligen Gaskammern befindet. Ein anderer Aspekt war,
das es nicht eindeutig scheint, ob das Material nun wirklich aus Asche
oder Erde besteht. Etwas abseits von diesem Monument befindet sich ein
aus sozialistischen Zeiten stammendes Denkmal. Es wirkt fast mickrig neben
dem Ascheberg, allerdings finde ich, dass der Ort trotzdem eine Art Ruhe
ausstrahlte, die mir „gefiel“. Als ich mich auf eine der daneben
stehenden Banken setzte, stellte ich mit Erschrecken fest, dass um mich
herum lehre Flaschen lagen. Es war das erste Mal während dieser Fahrt
und überhaupt, wenn ich an den Holocaust dachte, dass mich der Umgang
einiger Polen mit diesem Verbrechen fassungslos stimmte.
Nach diesen sehr tief gehenden Eindrücken, die ich in einigen Augenblicken
versuchte mit Tränen zu unterdrücken, gingen wir zurück
zum Museumshäuschen. Dort trafen wir erstmals auf unsere polnischen
Kollege, Marek Bem und die beiden Christopher. Auch wenn sie zu Beginn
eher einen skeptischen Eindruck auf mich vermitteln (vielleicht wussten
sie selbst nicht, was sie erwarten würde), schloss ich ihre Art und
ihr Engagement sehr schnell ins Herz. Mit den einfachsten Gegebenheiten,
die dort vor Ort existierten bekamen wir tagtäglich unseren Tee zum
Stärken und wenn nötig mit den vorhandenen Gaskochern einen
halbwegs warmen Raum, um die Nasskälte aus unseren Gliedern zu treiben.
Im Anschluss an einer kleinen Mittagspause, begannen wir die anfallenden
Arbeiten aufzuteilen. Dazu gehörten neben dem Pflanzen und Gießen
der Bäume, Wassergräben anlegen, Wege harken, sowie das Aufsammeln
von größerem Geäst von den Waldböden. Der größte
Teil der Bäume befand sich auf einem der anliegenden Höfe, so
dass diese auf einem Karren zu Allee gefahren werden mussten. Obwohl uns
an diesem Tag nicht mehr viel Zeit bis zur Rückfahrt, konnten wir
unter angenehmen Frühlingstemperaturen 80 Bäume pflanzen. Es
ist interessant, wie sich erst einmal eine Rhythmus und Arbeitsweisen
finden muss, bis sich niemand mehr im Weg steht, sich in seiner Aufgabe
wieder findet und dabei seine ganz eigene Art an Trauerverarbeitung lebt.
Einige, so schien es, konnten gar nicht anders, als in einer Gruppe mit
anderen Menschen zu arbeiten. Für andere ließ diese Form von
Tätigkeit viel zu wenig Raum zum Reflektieren und Trauern.
Am Abend saßen wir wieder zusammen, dabei wurde unter anderem genau
diese Frage besprochen, in welcher Art wir würdevoll diese Arbeit
verrichten können. Ich glaube, dass dies jeder für sich selbst
herausfinden muss, da wie gesagt jeder einzelne Mensch mit seinen Erfahrungen
und Charaktereigenschaften sein Umfeld verschiedenen wahrnimmt und verarbeitet.
Zum Abschluss des Tages schauten wir uns einen Film („Sobibor“
?) über den Aufstand in Sobibor an. Der Spielfilm wurde mit Hilfe
des Zeitzeugen Thomas Blatt produziert, der als einer der knapp 400 Überlebenden
den Aufstand in einer kleinen Gruppe mit organisierte. Ich jedenfalls
finde den Film sehr sehenswert, da er viele Informationen in einer zusammenhängenden
Geschichte beinhaltet.
Am Dienstagmorgen fuhren wir wieder mit dem Bus
nach Sobibór. Bevor wir uns auf den Weg begaben verabschiedeten
wir Jules, der wieder zurück nach Amsterdam reiste. In einem wesentlichen
wachenden Zustand nahm ich auf der Fahrt viel stärker die Umgebung
wahr. Viele neue Hausbauten fielen mir auf, die sehr landwirtschaftliche
geprägte Landschaft, in denen sich gerade die Störche in ihren
Nestern um ihren Nachwuchs kümmerten. Es gibt wenige Dörfer,
dafür aber in weiten Abständen kleine Gehöfte, die meist
vom Obstbäumen und langgezogenen Äckern umgeben standen. An
diesem Tag konnten wir 128 Bäume einpflanzen. Es regnete, wodurch
die Erde nassgetränkt sehr schwer in den Händen lag. Hin und
wieder hielt ich sie in ihrer grauen Farbe zwischen meinen Fingern und
verlor mich in den Gedanken mit dem bedrückenden Gefühl die
Asche der Toten zu berühren. Es wirkte mehr als abstrakt, als wir
begannen Bäume einzupflanzen, die an einem Ort im Wald aufgereiht
standen, an denen noch Reste von Weihnachtsschmuck hingen. Um Geld einzusparen,
wurden diese in einer Aktion nach den Feiertagen eingesammelt. Bevor wir
sie in die Erde huben, mussten wir die Nadeln erst einmal von Glitter
und Weihnachtssternen aus Papier befreien.
Mit einigen kleinen Pausen, die mir manchmal etwas zu kurz schienen, weil
gute Gespräche begrenzt wurden, arbeiteten wir den gesamten Tag durch.
Am Abend, in unserer Gesprächsrunde, stellte Horst auf Nachfrage
seine Idee vor, wie er den Ort um den Ascheberg umgestalten möchte.
Ich habe mir diese Idee nur schwer vorstellen können, was daran liegen
könnte, dass dieser Ort sehr weitläufig ist und ich ihn in meinen
Gedanken nicht zusammenhängend sehen konnte. Im Anschluss fand eine
Gesprächsrunde mit den polnischen Studenten statt. Leider fühlte
ich mich mit Kopfschmerzen zu müde, um daran teilnehmen zu können.
Aufgrund einer spontanen Einladung seitens Marek
Bems in das Jüdische Museum nach Wlodawa, fuhren wir am vierten Tag
unsres Aufenthalts dorthin. Die Synagoge wurde um 1750 mit ihren zwei
Nebenhäusern erbaut. Während der Nazizeit wurde sie als ein
Lager missbraucht und damit nicht zerstört. Vor dem Krieg setzte
sich die Bevölkerung noch aus 62% Juden zusammen, von denen heute
in Wlodawa kein einziger mehr lebt. Der dünne Christoph erzählte
uns von der Geschichte der Synagoge, wobei der sonst sehr zurückhaltende
Mensch ein vollkommenen neues Gesicht für mich erhielt. In dem dazugehörenden
Museum erklärte er was er wusste mit einem leidenschaftlichen Ausdruck
in den Augen, die zeigten, der er sich für dieses Thema wirklich
interessiere. Mich überraschte sehr der offen stehende Bücherbestand.
Diese Bücher waren teilweise so alt, dass ich Angst hatte, dass Papier
würde unter meinen Berührungen brechen. Es ist eigenartig, und
für mich etwas sehr ungewöhnliches, dass diese Zeugnisse nicht
hinter Glas verschlossen gehalten werden, wo man sie aus drei Meter Entfernung
betrachten darf. Marek Bem zeigte uns eine Dokumentation „Masterplan
Sobibor“ vom National Geografic Sender, in dem dargestellt wurde,
wie und mit welchen technischen Mitteln versucht wird der tatsächliche
Weg zu den Gaskammern sowie die Konstruktion des Lagers versucht wird
zu ermitteln.
Am Nachmittag in Sobibór pflanzten wir 89 Bäume. Viele der
Wege waren geharkt, die Äste vom Waldboden waren aufgesammelt, nun
musste in Schubkarren Eimer voll Wasser zu den Bäumen gefahren werden,
ein aufwendiger Akt, weil pro Karre nur ein Eimer transportiert werden
konnte. Karin lag derweil mit einem heftigen Bandscheiben-Vorfall in Betreuung
von Annette im Kloster.
An unserem letzten Tag in Sobibór, dem
Donnerstag konnten wir die Allee mit insgesamt 328 Tannen zu Ende bepflanzen.
Es wurden noch zwei neue Gedenktafeln einbetoniert und in einer stillen
Andacht ein Gedenkstein für Gertrude Schönbaum und Walter Poppert
gesetzt. Georg hielt dazu eine sehr menschenwürdige Rede, die uns
vermutlichen allen diesen Moment sehr nahe kommen ließ.
Es folgte ein Gruppenfoto und Florian ging noch einmal mit jedem der wollte,
das gesamte Geländer in seinen Grenzen ab. Anschließend verabschiedete
sich jeder persönlich von diesem Ort. Marek sprach uns rührende
dankende Worte aus, die gleichzeitig ein Abschied von ihm und den Christophern,
sowie den anderen polnischen Helfern vor Ort bedeuteten.
Als wir mit dem Bus den Ort verließen, spürte ich das ziemlich
sichere Gefühl, dass es nicht das letzte Mal gewesen sein, das ich
von Sobibór wegfuhr. Mich hat es teilweise sehr schockiert, wie
noch heute mit dem Holocaust umgegangenen wird, wie viel Geschichte einfach
auf dem Rücken der Opfer, dazu zähle ich auch die nachfolgenden
Generationen, vergessen werden soll, weil, wie es so oft offiziell als
Entschuldigung heißt, kein Geld vorhanden ist, um bestimmte Projekte
zu fördern. Was ich in Sobibór sah, ist nicht im Ansatz mit
dem zu Vergleichen, was ich in der Bildungsstätte Auschwitz erlebte.
Da wird in ein zwei Gedenkstätten kräftig investiert, um zumindest
das Gesicht zu wahren... dafür geraten aber andere mindestens genauso
bedeutsame Konzentrations- und Vernichtungslager in die Namenlosigkeit.
Nach dem Abendbrot wollten wir uns eigentlich einen weiteren Film anschauen,
diesmal über Menschen, die Sobibór überlebten. Allerdings
war die Qualität des Recorders derart schlecht, dass wir uns entschieden
diesen Tag ohne diese Dokumentation zu Ende gehen zu lassen.
Karfreitag. Trotz hochkatholischem Feiertag entschieden
sich ein paar der Nonnen letzten Endes doch uns ein Frühstück
vorzubereiten. Die ursprüngliche Absprache lautete, dass wir an den
letzten beiden Tagen selbst für unsere Mahlzeiten sorgen müssten.
Die anfänglich sehr schüchtern wirkenden Frauen, zeigten am
Ende eine sehr angenehme Herzlichkeit.
Mit dem Frühstück im Magen brachte uns unser Busfahrer heute
zunächst nach Izbica. Diese Kleinstadt diente während des Krieges
als ein Durchgangsghetto. Es gab keine wirklichen künstlich aufgerichteten
Mauern oder Zäune, sondern eher eine aus der Form der Umgebung existierende
Grenze. Ich habe die Zahlen vergessen, die zeigen, wie viele Juden vor
der Barbarei der Nazis dort lebten... Ich glaube aber, dass es zwischenzeitlich
23.000 Menschen waren, die dort auf den Weg zu anderen Punkten Ostpolens
zwischenstationiert wurden.
Unser Rundgang durch den Ort scheiterte an Wolkenbruchartigen Regenfällen,
die uns überraschten, als wir gerade auf der ehemaligen Rampe stehend
beginnen wollten, den Ausführungen Roberts zuzuhören. Um vor
dem Regen Schutz zu suchen, solange bis der Busfahrer wieder zurückkam,
stellten wir uns in einem kleinen Wartehäuschen unter. Robert hielt
dann seinen Vortrag im Bus, was wesentlich angenehmer war, als in der
Kälte des Regens bis auf die Knochen aufgeweicht zu werden.
Als sich der Himmel wieder etwas aufklarte, gingen wir zu dem Geburtshaus
von Thomas Blatt. Es steht trostlos in einer kleinen Seitenstraße
in der alte und neue Architektur, wie zwei Kontrastfarben aufeinander
prallen. Da standen wir vor der Nummer 13, ein Holzhaus, das nur verlassen
und beschädigt wirkt. Nachdem sich ankündigte, dass Thomas Blatt
als Überlebender in das Haus zurückkehren würde, suchten
Anwohner noch vor seiner Ankunft das Haus nach Wertgegenständen im
Gedanken, dass dieser Mensch als Jude wahrscheinlich, dass was er an Vermögen
besaß versteckt hielt. Ich hörte dem Redner kaum zu. Mich faszinierte
sowohl die Fassade des Gebäudes, als auch die Gesichter der Zuhörer,
deren Eindrücke ich versuchte in der Kamera festzuhalten.
Was mich in Izbica noch viel stärker berührte, war unser Besuch
auf dem jüdischen Friedhof, auf dem 500 Menschen umgebracht worden
sind. Hier findet kein Respekt vor dem Opfern statt. Vermutlich würde
dieser Ort unter dem Müll ersticken, wären da nicht die Stanislav-Hantz-Stiftung
die zusammen mit einer ortsansässigen Schule versucht den Friedhof
wieder aufzuarbeiten. In den vergangenen Jahren stellten sie Gedenktafeln
auf, so dass zumindest zu erkennen ist, dass es sich hier um einen besonderen
Flecken Erde handelte. Ansonsten halten es einige Anwohner nicht für
nötig ihren Dreck in dafür vorgesehene Mülltonnen zu entsorgen,
sondern den kürzesten Weg über den Gartenzaun zu wählen.
Mit Mülltüten in den Händen sammelten wir einen Teil der
Abfälle auf. Binnen weniger Minuten waren diese randvoll gefüllt.
Regen setzte ein und mit den blauen Säcken in den Händen liefen
wir durchs Dorf zurück zum Bus.
Ich hätte mich übergeben können, als sich zwei alte Frauen,
die gerade dabei waren, auf ihren gestriegelten Rasen stehend vorm Christenkreuz
ihre Gebete gedankenlos zu beten (würden sie sich nämlich bewusst
darüber sein, gingen sie vermutlich anders mit ihren Mitmenschen
um) aufregten, weil ich ihren in meinen Händen haltenden Müll
in ihre Mülltonne stopfen wollte. Ich war nur wütend über
diese Begebenheit und am Ende frustriert weil ich mich gern mit ihnen
gestritten hätte – ihre ach so tolle traditionelle Ruhe mit
anderen Realitäten füllen, die ganz nah neben ihnen existieren.
Der Busfahrer erklärte sich bereit die Müllsäcke zu entsorgen.
Wir fuhren weiter nach Zamosc, dem Geburtsort von Rosa Luxemburg. Auch
dieses Haus steht ganz unscheinbar inmitten einer kleinen niedlichen Häuserzeile,
deren untere Etage kleine Geschäfte beherbergte. Außer einem
Schild aus Bronze (?) mit dem Relief des Gesichts von Rosa und dem Hinweis,
dass es ihr Geburtshaus ist weist nichts weiter Besonderes auf den Ort.
Kurt, für den dieser Augenblick von großer Bedeutung war, brachte
einen Strauß Nelken in seinen Händen mit. In akrobatischsten
Ausführungen legte Reinhard die Blumen auf das Taubengitter über
die Tür.
Es regnete in Strömen. Daher blieb uns nichts weiter übrig als
schnellstmöglich ein Café zu suchen, wo wir ein warmes Plätzchen
finden konnten. Auch wenn ich nicht viel vom Bild des Städtchens
sehen konnte, wirkte die Stadtkern, im besonderen Lichtspiel von dunklen
Wolken und Sonnenstrahlen, die auf einmal hervorbrachen, sehr nett...
irgendwie südländisch.
Unseren Abschlussabend verbrachten wir mit den Studenten in einer der
vielen Kneipen direkt in dem Kloster. Eine von vielen, doch vermutlich
eine der wenigen, in der ein Hauch jüdischer Kultur zu spüren
ist. Wir aßen dort unser Abendbrot und saßen bis tief in die
Nacht in angenehmen Gesprächsrunden zusammen.
Am Samstagmorgen fuhren wir mit Robert nach Majdanek,
das ehemalige Konzentrationslager direkt in Lublin. Das Lager wurde wieder
aufgebaut – ein bekannter Name. Robert erklärte uns die einzelnen
Räume bzw. Baracken. Spätestens bei den Brennöfen empfand
ich nur noch Trauer, Wut und Schmerz. Wie kann man nur??? Es ist unbegreiflich
und wird es mir immer bleiben.
Am Nachmittag räumten wir unsere Zimmer und gingen noch einmal in
derselben Kneipe vom Vortag Abendessen, bevor uns der Busfahrer zum Bahnhof
brachte. Zum Abschied schenkte er uns Frauen jeder eine Rose. Unsere Rückfahrt
mussten wir aufgrund von Organisationsschwierigkeiten bei den einzelnen
Bahngesellschaften umplanen. Früher als ursprünglich gedacht
nahmen wir zunächst einmal einen Inlandszug nach Warschau, wo wir
zweieinhalb Stunden Aufenthalt „genossen“. Meine Gedanken
fühlten sich zwischen dem, was mich in Berlin erwarten möge
und dem, was ich gerade erlebte und erlebe hin und her gerissen. Endlich
hielt der Nachtzug nach Berlin Lichtenberg, diesmal moderner als der von
der Hinfahrt. Die Fenster gingen zu öffnen, was für mich jedes
mal ein unbeschreibliches Gefühl bedeutet: den Kopf aus dem Fenster
in den Fahrtwind strecken. Ich trank viel zu schnell und für meine
Verhältnisse viel zu viel Wodka... mich erwartete in Berlin ein Ostersonntag
mit Familie. Erst auf der Fahrt vom Bahnhof zu einem Hotel, wo wir frühstückten,
ließen sich meine Tränen nicht mehr unterdrücken.
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